Wenn eine Explosionsschockwelle unseren Arbeitsplatz zerstört, ist das an sich kein Problem: Wir gehen einfach zur nächstbesten Arbeitsagentur und lassen uns ein schönes Arbeitslosengeld verordnen. Was aber, wenn sich die Explosion während der Arbeitszeit ereignet? Und was, wenn wir dabei in 3600 Metern Tiefe von einem 500 Kilogramm schweren Tauchanzug in die Muscheln gedrückt werden? Honor Codes‘ Narcosis simuliert genau diesen Worst Case für Industrietaucher – und wir bekamen es in dieser Situation mächtig mit der Angst zu tun.
Submarines Survival-Wochenende
Wochenendarbeit ist doof – das wissen auch die Angestellten der fiktiven Bohr- und Forschungsfirma Oceanova, die es sich am Grunde des Pazifischen Ozeans gleich mehrfach gemütlich gemacht hat. Als Taucher der Anlage „Compass I“ absolvieren wir einen solchen Wochenendeinsatz, der mit einem Routine-Check unseres Tauchanzugs eigentlich recht ruhig beginnt. „Leuchtfackeln: Check“, „Pumpstrahlantrieb: Check“ … Obwohl wir uns hier im Testbecken in relativer Sicherheit befinden, können wir das bevorstehende Unheil förmlich riechen.
Liegt es vielleicht an der bedrückenden Enge unseres Anzugs oder an der schwermütigen Stimme unseres Assistenten? Uns bleibt keine Zeit für derartige Analysen, denn schon während dieses Testlaufs verwirrt uns Honor Code mittels cleverer Filmtechniken, die uns selbst hinsichtlich unseres Aufenthaltsortes verunsichern. Sicher ist nur, dass wir wenige Minuten später von einer Explosionsschockwelle getroffen werden und in der Folge das Bewusstsein verlieren.
Als wir die Augen wieder öffnen, wird aus einer üblen Vorahnung schnell Gewissheit: Wie durch ein Videospielwunder haben ausschließlich wir den mysteriösen Unfall überlebt. Allerdings wurde Compass I weitgehend zerstört, sodass wir weder einen Hilferuf senden noch ein Schienenshuttle nach Compass II besteigen können. Nach kurzem imaginären Kinnkratzen entschließen wir uns zu einem etwas ausgedehnteren Tiefseespaziergang, der uns hoffentlich nicht nur zu Sauerstoff, sondern auch zu einem Plan B führen wird.
Natürliche Angst
An dieser Stelle sei verweggenommen, dass uns Narcosis – in seiner Eigenschaft als Survival-Horror-Adventure – nicht etwa mit bettlakendekorierten Spukfischen mit Schluckauf konfrontieren wird. Die Entwickler selbst sagen, dass ihr unterseeischer Horrortrip grundsätzlich in der Realität angesiedelt sei. Von dort aus wandere er jedoch „zielstrebig in das Surreale“, was wir für eine probate Beschreibung halten. Ab einem gewissen Punkt fangen wir nämlich sprichwörtlich an, (nicht nur) Geister zu sehen.
… Womit wir nicht diesen beinahe fernöstlich anmutenden Zappeltaucher-Scare meinen, der zu Beginn unserer Reise als eine Art Startschuss fungiert. Was auch immer wir da gesehen haben mögen: Vorerst bekommen wir es hauptsächlich mit „natürlichen Scares“ zu tun, was z.B. eine riesenhafte Spinnenkrabbe aus dem schönen Japan sein kann. Gegen sie können wir mit unserer einzigen Waffe, einem ausrangiert wirkenden Tauchermesser, rein gar nichts ausrichten.
Wirkung zeigt die Schneide nur gegen kleinere Tiefseebewohner, die nicht selten ein ausgeprägtes Territorialverhalten an den Tag legen. Insbesondere Kraken sind pfeilschnell und aggressiv, aber auch fies bezahnte Tiefseefische machen sich bei uns nicht sonderlich beliebt. Zwar können sie unserem wandelnden Sarg nicht das Geringste anhaben. Allerdings verursachen Tierangriffe Stress – und Stress führt natürlich zu einem erhöhten bis kritischen Sauerstoffverbrauch.
Max Payne der Meere
Vor Aufregung sind wir übrigens nirgends sicher. Ob wir also gerade durch die (in doppeltem Sinne) erdrückende Tiefsee oder durch die Ruinen von Compass I marschieren – unschöne Leichen gibt es in Narcosis überall zu sehen. Wie dumm ist es da, dass das Einsammeln der ID-Karten Verstorbener Teil unseres Jobs und überdies wünschenswert ist. Ein bisschen Story steht nämlich immer auch in der Personaldatenbank unseres anzugsinternen Computers zu lesen.
Apropos Story – auch in diesem Punkt tickt das ehemalige Studentenprojekt ein wenig eigen. Cutscenes oder Ähnliches gibt es praktisch nicht. Stattdessen spricht, gelegentlich, der hervorragend synchronisierte Protagonist. Langsam. Dunkel. Beschwerlich. Seine weisen Ergüsse über das Leben wirken zuweilen fast schon deplatziert, bis uns in späteren Kapiteln allmählich ein Licht aufgeht. Der vielleicht einsamste Taucher der Welt gibt aus gutem Grund den Max Payne der Meere; die damit einhergehende, atmosphärische Verdichtung spielt eine eher untergeordnete Rolle.
Tiefergehende Technik
In Honor Codes‘ Studioerstling sind nicht nur der Ozean und die Stimme des Protagonisten tief. Wirklich alles ist hier tief – sogar der erstklassige, ambiente Soundtrack, dem die knackigen (und tiefen) Soundeffekte in nichts nachstehen. Als hätte der Tonmeister das sämtliche, auf der Unity-Engine basierende Geschehen verzapft, verschmelzen alle Komponenten des Spiels zu einer ziemlich professionellen Einheit.
Zumindest aus technischer Sicht ist es demnach eine Freude, aus dem High-Tech-Tauchanzug heraus die lebensbedrohliche Umgebung in Augenschein zu nehmen. Praktischerweise liegt unser Kopf sogar als Standalone-Version vor, sodass wir unabhängig von unserer Laufrichtung ein matschtexturfreies Großaquarium feiern können. Den optischen Gesamteindruck trüben nur einige wenige Leichen, die im Tod eine Schaufensterpuppen-Karriere eingeschlagen zu haben scheinen.
Vielleicht halten sich auch deswegen die Hardwareanforderungen in Grenzen. Los gehts bereits mit einem i5-Prozessor, einer GTX-560-Grafikkarte und vier Gigabyte RAM. Wer mindestens eine GTX 960 mit 4 GB und das Doppelte an RAM-Speicher verbaut hat, wird in etwa so viele Ruckler erleben, wie bei einem Erdbeben der Stärke Null. (Hint: Nur von Messinstrumenten wahrnehmbar.)
Echt gut, aber…
Im Grunde handelt es sich bei Narcosis um einen äußerst immersiven Unterwasser-Remix aus Echo Night: Beyond und Max Payne. Vor allem ersterer Titel könnte hier – zumindest bis zu einem gewissen Punkt – Pate gestanden haben, zumal sich Narcosis exakt derselben Horrorelemente bedient. Es geht um die unbehagliche Enge eines schweren Umweltschutzanzugs, um Platzangst auslösende Korridore und um aus dem Kontext gelöste Verwirrspielchen Marke Alice im Wunderland oder auch Hideo Kojima auf LSD.
Letzteres ist allerdings nicht abwertend gemeint; ganz im Gegenteil. Ein Beinchen stellen sich die Entwickler erst mit den etwas größeren Arealen späterer Abschnitte, die mit ihren Suchrätseln den einen oder anderen Geduldsfaden reißen lassen könnten. Wenn nämlich das mehrfache Umgraben des Meeresbodens immer noch keine Compass-II-Schlüsselkarte zutage fördert, platzt irgendwann auch die letzte Languste. Geht uns zudem womöglich der Sauerstoff aus, müssen wir unter Umständen einen großen Teil des jeweiligen Kapitels von vorne spielen.
Das ist also der Deal: Wenn ihr die Nerven (und vielleicht sogar ein VR-Headset) habt, haben Honor Code das Spiel. Geduld wird hier teilweise mit AAA-Qualität und, so in VR gespielt, reichlich Wasser in der Lunge belohnt. Zu Beginn wird Narcosis mit etwa 20 Euro zu Buche schlagen, was uns trotz erwähnter Schwächen durchaus gerechtfertigt erscheint. Der Wiederspielwert des gruseligen Stück Codes hält sich zwar in argen Grenzen, doch die Spielzeit ist mit circa 15 Stunden sicher nicht zu knapp bemessen.