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Mit dem Action-RPG Vampyr verschlägt es den französischen Entwickler Dontnod Entertainment in den Herrschaftsbereich von Vampire: The Masquerade – Bloodlines, das zusammen mit Deus Ex & Co die Speerspitze des PC-Gamings bildet. Ob das jüngste Werk der Remember-Me- und Life-is-Strange-Macher in solchen Sphären bestehen kann, scheint fraglich. Einen ernstzunehmenden Angriff auf Troika Games’ Flaggschiff könnte Vampyr aber allemal darstellen. Ein Testbericht aus dem von der Spanischen Grippe heimgesuchten London.
Vampyr: Totgesagte leben länger
Schon mal in der Haut eines Toten gesteckt? Vampyr bietet uns diese übel riechende Erfahrung, indem es uns in die Leiche Jonathan Reids transplantiert. Zu Lebzeiten kannte man uns auch als Doktor Jonathan Reid – wir waren Arzt und renommierter Experte für Bluttransfusion. Außerdem waren wir Opfer eines Vampirangriffs, sodass wir uns heute von den Toten erheben werden. Aber nicht etwa in einem Akt des Mühsals, nein, nein; wir müssen uns nicht erst durch gut sechs Fuß Erde essen. Denn unser Körper wurde open air deponiert, in einem müffelnden Massengrab voll mit ähnlichen Schicksalen.
Von wegen also Grippeepidemie mit bis zu 50 Millionen Opfern: Draculas Erben waren’s, doch das werden wir Wikileaks erst später mailen können. Zu sehr quält uns der Durst nach Blut, den wir dem Entwicklerwunsch nach auf eine storystiftende Weise löschen werden. Denn was, bitte, wäre in diesem Moment dramatischer, als Jonathans Schwester nahe der Todeszone herumwackeln zu lassen? Stimmt, nichts. Und so kommt es dann auch, wie es kommen muss: Wir erweitern die herzige Begrüßungsumarmung um ein ausgiebiges Frühstück, in dessen Folge unsere Schwester verstirbt. (Wohlgemerkt endgültig.)
Entsprechend beginnen wir zu trauern, zu fluchen und zu schwören. Wir schwören, dass wir denjenigen, der uns diesen abscheulichen Vampirismus mit ins Grab legte, finden und zur Rechenschaft ziehen werden. Dass wir nicht eher ruhen würden, bis et cetera perge perge. Dann legen wir den leblosen Körper unserer Schwester beiseite und gehen in Richtung Hafenviertel, wo wir Informationen zu finden hoffen. Über uns, über die genauen Umstände unseres Todes sowie über etwaige suspekte Gestalten, die sich in und um die St. Catherine Docks herumgetrieben haben könnten.
Des Doktors Platzangst
Und wo auch sonst, stellt die erwähnte (und im Übrigen real existierende) Lokation nämlich die einzige Map des Spiels dar, was grundsätzlich kein Problem wäre. Für ein immersives Semi-Open-World-RPG wie Vampyr braucht es allerdings schon etwas mehr als popelige sechs Bezirke, deren Maße selbst die territorial bescheidenste Katze die Nächte durchheulen ließen. Ferner gibt es in den grafisch recht ansprechend gestalteten Dunkelgassen kaum etwas zu entdecken, da die Häuser sowie potentiell interessante Bereiche fern der Hauptwege nur selten betretbar sind.
Was den Karren für manchen dann aber doch noch aus dem Dreck ziehen könnte, ist die Tatsache, dass Vampyrs Miniatur-London mit Quests und stimmungsvollen Dialogen vollgestopft wurde. Für weniger redselige Spielertypen hingegen sind letztere dann der finale Nagel im Vampirsarg. Zwar erzählen die hervorragend synchronisierten Charaktere keine Alltagsgeschichten aus dem Nihon-Falcom-Universum. Aber sie sprechen ziemlich oft – und teils sogar länger, als es der eine oder andere Witcher-3-Fan ertragen würde.
Nichtsdestotrotz hat das technisch weitgehend saubere AA-Blutsaugen seinen Reiz, da es, milde gesagt, fordernd ist. Wer seine defensiven und offensiven Vampir-Skills – etwa die mächtige „Blutlanze“ oder die temporäre Unsichtbarkeit – nicht halbwegs überlegt aktiviert und hochstuft, der wird in einigen Kampfsituationen große Probleme bekommen. Probleme, die sich nicht mittels von Schnellspeicher- und Schnelladetasten angehen lassen, da freies Speichern in Vampyr komplett entfällt. Zu allem Übel werden wir nach unserem „Tod“ auch noch zurück an den Anfang der jeweiligen Quest geworfen, was zuweilen selbst 400 Jahre alte Vampire aus der Fassung zu bringen vermag.
Zentral organisierte Weltenrettung
Weitaus beruhigender (und auch erfüllender) ist da schon die medizinische Restauration der einzelnen Bezirke. Dies geschieht via der Nutzung von Crafting-Stätten, die im Übrigen auch das bitter notwendige Aufwerten von Waffen erlauben. Das Herstellen von Medizin für die verschiedenartig erkrankten Einwohner ist keine Pflicht, bringt aber einige Vorteile mit sich. So verfügen gesündere Menschen naturgemäß über besseres Blut, und besseres Blut bedeutet mehr Erfahrungspunkte für uns. Zudem hebt jeder geheilte Einwohner die standesgemäß miesepetrige Stimmung im Bezirk – nützlich nicht nur für die harmoniebedürftigen Naturen unter uns.
Wenn nämlich die Stimmung eines Bezirks kippt, sich also unterhalb des Zustands „Kritisch“ einpendelt, dann werden wir von allen Seiten Haue bekommen. Und zu empfehlen ist dies eigentlich nur für Masochisten, da Londons Straßen vor identitätslosen Vampirjägern und feindlichen Skals (niederen Vampiren) nur so wimmeln. Besonders die Vampirjäger sind in Gruppen tückisch, weil sie sich sowohl aus Nah- als auch aus Fernkämpfern zusammensetzen. Während uns also der Großteil der Jäger mit Schwertern und Keulen bearbeitet, geben uns die hinteren Reihen jede Menge Blei.
Auch wir können diverse Schusswaffen aus dem Mantel ziehen, doch Vampyr ist beileibe kein Third-Person-Shooter. In Kämpfen spielt es sich vielmehr wie ein Devil May Cry; mit eher knapp bemessener Munition und einem Fokus auf Skills.
Fazit: Gut – und doch bloß zweite Wahl
Trotz sehr guter Musik, dichter Atmosphäre und interessanter spielerischer Ansätze: Zu seinem schier übermächtigen Konkurrenten kann Vampyr zu keiner Zeit aufschließen. Wer also Vampire: The Masquerade – Bloodlines noch nicht kennen sollte (und sich auch nicht durch betagte Optik ärgern lässt), der kann Jonathan Reids Rachefeldzug guten Gewissens auslassen. Wer aber lediglich auf der Suche nach neuen Opfern ist, dem können wir Dontnods neuestes Werk bedingt ans Herz legen.
Denn auch, wenn Vampyr nicht gerade einem Feierabendspaziergang gleichkommt, machen die kampflastigen Quests Spaß. Es macht Spaß, die mal leichter, mal schwerer erkrankten NPCs gesundzucraften – und die heruntergekommenen Bezirke wieder auf Vordermann zu bringen. Ja eigentlich macht es sogar Spaß, gefühlte 60% der Spielzeit zum Quatschen verdammt zu sein. Doch dazu möchte sich garantiert nicht jeder verdammen lassen.
Sascha
Wer schon immer in die Haut eines Vampirs schlüpfen wollte, kommt an Vampyr sicher nicht vorbei. Trotz kleiner Schwächen hat mich vor allem das Sound-Design begeistert. Die Geräuschkulisse passt zur düsteren Atmosphäre und die Synchro der Charaktere ist sehr gut gelungen. Auch die korrekte Handhabung unseres Vampirs ist schnell gelernt. Wer jedoch ein aktionsreiches Spektakel erwartet, ist hier falsch – die langen Dialoge mit den NPCs verlangsamen das Spiel, sind aber wichtig für den Verlauf. Von mir gibt es dennoch eine klare Kaufempfehlung.