Der lang erwartete P.T.-Klon Visage ist gestern in den Early Access gestartet – und auch im Hause Guided, besonders bei mir, war die Freude darüber groß. Bis ich nach gut zwei Stunden Spielzeit leider feststellen musste, dass ich mir hier einen Adrenalinstoß ziemlich hart verdienen muss. Mein ernüchterter Ersteindruck des vielleicht etwas überambitionierten Survival-Horrors.
Liebling, ich habe die Kinder erschossen
Eigentlich beginnt Visage ja genau so, wie es beginnen sollte: düster, krisselig, verstörend. Ein Mann sitzt an einem Tisch, steckt nach und nach sechs Patronen in seinen Revolver, steht auf, richtet die Waffe auf drei an Stühle gefesselte Personen. Als das Bild etwas schärfer wird, sind die Gefesselten als mittelalte Frau sowie zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, zu identifizieren. Auwei, auwei, das wird krank. Ist das etwa eine Familienexekution? Es scheint ganz so: Eiskalt drückt der mutmaßliche Vater nun den Abzug, dreimal. Dann richtet er die Waffe gegen sich selbst, drückt noch einmal ab, das Bild wird schwarz. War es das?
Mitnichten: Nur Sekunden später wechselt der Schauplatz, und der Mann erhebt sich unter großen Schmerzen aus (s)einer schwarzen Blutlache. Unter unsäglichem, aber realistischem Kameraschaukeln humpelt er auf die einsame Tür vor ihm zu, öffnet sie – und steht unvermittelter Dinge im luxuriösen Haus seiner Familie.
Der AB leuchtet, es ist die etwas betagtere Nachbarin von nebenan, die sich nach dem Wohlbefinden der nunmehr ehemaligen Bewohner erkundigen will. Zurückrufen kann er nicht; vielleicht ist er dafür zu tot. Vielleicht befindet er sich aber auch in einem komatösen Zustand – oder er hat sich vorhin lediglich ein drittes Loch in die Nase geschossen. Was auch immer genau Sache sein mag: An diesem Punkt beginnt deine investigative Reise.
Warten auf den Horror
Oder auch nicht … Das hängt ganz von deinen persönlichen Erwartungen ab. In der (Steam-)Beschreibung des Spiels weisen die Entwickler von SadSquare Studio seit heute darauf hin, dass Visage seinen Fokus auf die Entdeckung (der im Wesentlichen über die Umgebung erzählten Story) lege; das Spiel baue die Spannung bewusst langsam auf, um so eine nachhaltigere Erfahrung zu bieten. Tja, bei aller Unerfahrenheit des noch ziemlich jungen Studios: „Dev Talk“ scheinen die Jungs bereits einwandfrei zu beherrschen. Aber genügen schöne Worte wirklich, um eingefleischte Horrorfans bei der Stange zu halten?
Ich – in meiner Eigenschaft als „Vollblut-Horrorfan“ – habe mich bei meinem ersten Rundgang beträchtlich gelangweilt. Im Wesentlichen hantierte ich mit Kartons, öffnete Türen, starrte in den leeren Wäschetrockner und klopfte im Wandschrank „meiner“ Tochter mit einem Klopfgeist um die Wette (nicht, dass er sich hätte blicken lassen). Ab und an platzte auch mal eine Glühbirne, und immer wieder nervte das chronisch un-unheimliche Transistorradio mit mäßig paranormalem Gerausche.
Als ich dann eine Videokassette in den Recorder legen wollte, bekam ich die Meldung „Nicht im Early Access!“ vor den Kopf geknallt, woraufhin ich enttäuscht in den Keller wackelte. Denn hey: Horrorspiel, Keller – sicher würde dort irgendetwas passieren, vielleicht ja ein knallharter Kellergeist-Jumpscare. Aber nun rate mal? Genau, wieder nichts. Ich hatte also niemals mit meiner eigenen Angst, sondern vielmehr mit der Angst des Protagonisten zu kämpfen.
SadSquare hat nämlich, was an sich löblich ist, ein Stresssystem implementiert, bei dem sowohl Dunkelheit als auch platzende Glühbirnen am Verstand der Hauptfigur kratzen. Das Ganze hat aber einen derart hohen Impact auf das Gameplay, dass ich mich kaum auf das konzentrieren konnte, was in meiner unmittelbaren Umgebung geschah. Es wäre demnach sogar möglich, dass ich die eine oder andere Geisterscheinung verpasst habe, da meine Augen stets am Stress-O-Meter und an den nicht immer rettenden, weil kaputten Lichtschaltern klebten. Hier wird das Entwicklerteam hoffentlich noch nachbessern, denn die gegenwärtige Überempfindlichkeit des Familienvaters trübt den Spielspaß gewaltig.
Fazit: Von wegen P.T.
Aktuell ist Visage ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte – und es grämt mich fast, zu sagen, dass mir im Vergleich selbst Silent Descent – eine dreiste Copy-Paste-Veranstaltung – besser gefallen hat. SadSquares Erstling fehlt es an Stimmung und vor allem an richtungsweisenden Ereignissen; Ereignisse also, die einen Vorgeschmack auf das geben, was uns später (hoffentlich) erwartet. Diese Technik kennt man aus anderen Spielen wie auch aus einschlägig bekannten Filmen, sie ist weder neu noch große Magie. Und somit muss man sich im Falle von Visage schlussendlich fragen, ob ein Horrorspiel, das seinen Spieler zum Psychoterror-Bittsteller degradiert, nicht eigentlich sein Ziel verfehlt hat.