Auf der Devcom Developer Conference 2024 (devcom) bot Yoan Fanise, CEO von DigixArt, Einblicke in ein Problem, das Entwickler beschäftigt: Narrative Spiele und die Content-Veröffentlichung auf Videoplattformen. Seine Gedanken und die Impulse aus dem Publikum gebe ich in diesem Blogbeitrag wieder. Thomas Tuts, Gründer von Streaming Toolsmith hat in seinem Vortrag einen möglichen Lösungsansatz aufgegriffen, den ich anschließend betrachte: Twitch Integration.
Die wichtigsten Punkte:
Eine junge Frau sitzt auf dem Sofa.
Auf dem Monitor vor ihr ein Videospiel.
Wer verdient hier gerade Geld?
Das ist gar nicht so leicht zu sagen: Spielt sie das Spiel selbst? Dann haben die Entwickler und Publisher daran verdient. Schaut sie einen Twitch Livestream? Dann verdient Twitch und die Person, die streamt. Streamt sie selbst das Spiel? Dann verdient sie gerade Geld damit – und die Streaming-Plattform.
Seit der Corona-Zeit ist Game-Streaming auf Plattformen wie YouTube oder Twitch deutlich populärer. Wer Spiele entwickelt, sieht sich zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, dass die aufwendig gestalteten Spiele als Lets Plays oder Livestreams von Millionen Menschen konsumiert werden. Ohne dass die jemals das Spiel kaufen oder selbst spielen.
Fanise machte deutlich, dass ein Teil der Entwickler von Story Games frustriert sind. Sie stellen fest, dass ein großer Teil ihres potenziellen Publikums damit zufrieden ist, Spiele lediglich anzusehen, anstatt sie aktiv zu spielen. So geht ein potenzieller Käufer flöten. Diese Zuschauer generieren für die Entwickler keinerlei Einnahmen, obwohl sie den gesamten Inhalt des Spiels konsumieren.
Für mache Entwickler fühlt es sich an, als wären sie eine Fußballmannschaft, die bei Regen auf dem Spielfeld ackert. Das große Geld verdient dann aber der Kommentator, der aus seiner trockenen Sprecherkabine lediglich die Übertragung lustig kommentiert.
Schutz vs. Sichtbarkeit: Die Film- und Musikindustrie hat es geschafft, ihre Inhalte auf Plattformen wie YouTube besser zu schützen. Wer hier gegen das Urheberrecht verstößt, wird „demonetarisiert“ oder „gestriked“ und kann dann keine Einnahmen mehr generieren – oder verliert den eigenen Kanal komplett.
Die Spieleindustrie steht vor der Herausforderung, eine Balance zwischen Sichtbarkeit und Monetarisierung zu finden: Sichtbarkeit auf YouTube und Twitch ist kostenlose Werbung. Story Games verlieren aber bei einem linearen Ablauf an Wert, je nachdem wie viel der Story kostenlos verfügbar ist.
Alex Hutchinson, ein prominenter Spieleentwickler, äußerte bereits früher die Meinung, dass Streamer und YouTuber Lizenzgebühren an die Entwickler zahlen sollten, wenn sie deren Inhalte zeigen. Dies wäre ein Schritt, der Entwickler für den Verlust an potenziellen Verkäufen entschädigen könnte.
Allerdings bleibt diese Meinung in der Industrie umstritten. Bei Streamern löste sie heftige Gegenreaktionen aus. Hutchinsons damaliger Arbeitgeber Google (Stadia) sah sich genötigt, eine Erklärung abzugeben, dass diese Ansicht nicht die Unternehmens-Meinung sei.
Yoan Fanise und andere Branchenexperten wie Jenova Chen und Joseph Fares diskutieren auf Konferenzen wie der devcom verschiedene Lösungsansätze, um dieses Problem zu lösen. Hier vier mögliche Ansätze:
1. Make it super great: Ein Ansatz besteht darin, das Spielerlebnis so zu gestalten, dass es selbst für diejenigen, die das Spiel auf Streaming-Plattformen gesehen haben, noch spannend und lohnend bleibt, es selbst zu spielen. Beispiele wie The Last of Us Part II und God of War zeigen, dass etablierte Marken das können. Durch umfangreiches Gameplay bieten sie auch nach einer vollständigen Ansicht des Spiels auf YouTube oder Twitch noch genug Anreize für den Kauf. Doch dieser Erfolg ist schwer für kleinere AA-Titel zu erreichen.
2. Integration von Multiplayer-Elementen: Fanise stellte außerdem Tides of Tomorrow vor, ein zukünftiges narratives kooperatives Multiplayer-Abenteuer. Hier beeinflussen die Entscheidungen eine*r Spieler*in nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch die Erlebnisse anderer Spieler*innen in der Spielwelt. Diese Art von dynamischer Erzählstruktur, bei der Spieler*innen miteinander interagieren und einander beeinflussen, kann nicht vollständig durch das Zuschauen erlebt werden. Und das erhöht dann wieder den Kaufanreiz. Ähnliche Ansätze haben schon Spiele wie It takes two oder A Way Out.
3. Bedeutungsvolle Entscheidungen und Konsequenzen: Bedeutungsvolle Entscheidungen, die unmittelbare und sichtbare Auswirkungen auf die Geschichte, die Charaktere oder die Spielwelt haben, sind ein weiterer Schlüssel zur Erhöhung des Spielerengagements. Da nur etwa 20 % der Spieler*innen das Ende eines Spiels erreichen, sollten diese Entscheidungen früh im Spiel getroffen werden. Auch die Konsequenzen sollten schnell sichtbar werden – und nicht erst in der Schluss-Szene. Dies verstärkt das Gefühl der Kontrolle und des Einflusses, das Spieler*innen haben, und schafft ein Erlebnis, das über das Zuschauen hinausgeht.
4. Hoch-individuelle Spielerfahrungen: Ein weiterer Ansatz ist es, die Einzigartigkeit des Spielerlebnisses zu steigern. Dies kann durch eine komplexe narrative Struktur geschehen. Weitverzweigte Entscheidungsmöglichkeiten, prozedural generierten Inhalten und mehreren Enden können dieser Strategie dienen. Dadurch wird das Spielerlebnis für jeden Durchlauf anders und weniger vorhersagbar. Das erhöht den Reiz des aktiven Spielens und macht das bloße Zuschauen weniger attraktiv. Ein Beispiel hierfür ist Road 96.
Neben den Optimierungen im eigentlichen Spielerlebnis könnten auch innovative Marketingstrategien helfen, das Problem des passiven Konsums zu lösen. Hier ein Auszug der Ideen, die auf der devcom im Plenum angerissen wurden:
Ausprobieren. Dienste wie Game Pass bieten eine effektivere Möglichkeit, potenzielle Spieler anzulocken. Sie können das Spiel ausprobieren, solange es im Games Pass enthalten ist. Danach müssen sie es kaufen.
Deadline. Studios könnten Content Creatoren eine kostenfreie Lizenz geben, die Inhalte bis zu einem bestimmten Punkt im Spiel zu zeigen. Inhalte, die über diesen Punkt hinausgehen, dürfen erst nach Ablauf eines bestimmten Datums gezeigt werden. Solche Embargo-Deadlines sind im journalistischen Bereich verbreitet. Ob alle Let'sPlayer*innen und Streamer*innen damit zurechtkommt, ist allerdings fraglich.
Weiterspielen. Das Teilen von Spielständen (über Stadia oder einen QR-Code) wäre eine weitere Möglichkeit, wie Content-Creator*innen noch stärker mit den Entwicklern zusammenarbeiten könnten. Wenn entsprechende Haltepunkte im Spiel eingeblendet würden, sodass sie für Dritte abrufbar sind, könnten Zuschauer*innen sich das Spiel kaufen und genau da weiterspielen, wo sie lieber eine andere Entscheidung getroffen hätte.
Twitch ist nicht umsonst der Platzhirsch, wenn es ums Game-Streaming geht. Keine andere Plattform hat vergleichbare Integrations-Möglichkeiten geschaffen. Das steigert nicht nur die Zuschau-Zeit auf Twitch, sondern kann auch eine tiefere Bindung zwischen Spielen, Streamer*innen und ihrem Publikum fördern.
Thomas Tuts erklärt auf der devcom die Möglichkeit von Twitch Extensions, Zuschauer*innen aktiv ins Spielgeschehen einzubeziehen. Ein Beispiel hierfür ist Cult of the Lamb, wo Community Mitglieder durch den Einsatz von Kanalpunkten das Spielgeschehen beeinflussen können. Solche Funktionen schaffen eine starke emotionale Bindung, die über ein reines Zuschauen hinausgeht.
Auch Abstimmungen an Entscheidungs-Punkten im Spiel können die Zusehenden zu Spiele-Käufer*innen machen. Beispiel: Knapp die Hälfte der Zuschauer*innen stimmt für eine bestimmte Entscheidung im Spiel ab. Da die Mehrheit für eine andere Entscheidung ist, wird ihr Wunsch nicht umgesetzt. Das könnte das Bedürfnis wecken, das Spiel selbst zu spielen, um zu sehen, wie sich die nicht gezeigte, bevorzugte Entscheidung auswirkt.
Auch das Mitspielen von Zuschauer*innen als Spielfiguren mit ihrem Twitch-Namen in dem Spiel, das gerade gestreamt wird, erhöht die Bindung zu dem Spiel und hat eine enorme Bedeutung für die Zuschauer*innen. Diese Art der Twitch Integration ist auch in The Wandering Village und Overland umgesetzt.
Tuts stellte mehrere Arten von Twitch-Integrationen vor. Neben der Verknüpfung von Twitch-Chat und Spiel gibt es auf dieser Plattform auch die Möglichkeit, ein eigenes Overlay für ein Spiel als Twitch Extension zu programmieren. In Baldur’s Gate 3 können Zuschauer*innen sich so beispielsweise in einem Overlay anzeigen lassen, was die Streamer*in im Inventar der Spielfiguren hat und was im Zauberbuch an hilfreichen Sprüchen zur Verfügung steht.
Es gibt auch Integrationen, die unterhalb des Video-Fensters eingebunden werden können. Die sind sogar dann sichtbar, wenn die Streamer*in gerade gar nicht online ist oder ein anderes Spiel spielt.
Ich kann die Perspektiven von Studios genauso nachvollziehen wie die von Streamer*innen, LetsPlayer*innen und Zuschauer*innen. Letzte schauen einfach lieber beim Spielen zu, als selbst zu spielen. Das gibt es beim Fußball genauso wie bei Videospielen.
Die Metapher mit dem „lustigen Fußballkommentator“ finde ich hingegen nicht angemessen. In der Debatte ist sie ebenso wenig hilfreich wie manche arroganten Kommentare von Content Creator*innen: „Die Entwickler sollen froh sein, dass ich ihr Spiel streame oder im Video zeige. Da mache ich ja Werbung für sie.“
Viele Content Creator*innen fügen – zusammen mit ihrer Community und dem Live-Chat – dem Spiel eine Ebene hinzu, die deutlich mehr ist als das bloße Kommentieren eines Fußballspiels durch eine einzelne Person.
Doch durch kreative Lösungen können Entwickler*innen darauf hinarbeiten, dass ihre Spiele nicht nur konsumiert, sondern auch gespielt werden. Es gibt Menschen, die beides tun. Eventuell sogar in einem spielen-zuschauen-spielen-loop.
Ich bin hier sehr neugierig, welche innovativen Konzepte es noch geben wird, um win-win-win-win Lösungen für Studios, Streamer*innen, Spieler*innen und passive Zuschauer*innen zu generieren. Ich bin davon überzeugt: In der Suche nach diesen Lösungen liegt das größte Potenzial für Wertschöpfung in diesem Themenfeld.