Der polnische Entwickler 11 Bit Studios macht Spiele mit eindringlichem Survival-Ambiente, die beim Spieler das Gefühl erzeugen, selbst ein wenig gespielt zu werden. Sein neuester Spross Frostpunk schafft das, was This War of Mine bereits ausgezeichnet konnte: eine neue Perspektive auf ein bekanntes Szenario zu werfen und dabei dem Spieler neben düsterem Spielvergnügen auch eine lehrreiche Erfahrung zu vermitteln. Wir haben die Gamescom-exklusive Vorabversion ausführlich für euch getestet.
Die Glocken schallen durch das zu Eis erstarrte Tal, in dessen Mitte einzig der Monolit des Dampfgenerators aus den Schneemassen aufragt. Eine Handvoll Überlebender schart sich um dieses letzte bisschen Hoffnung in einer Zeit, da alle Hoffnung zu erfrieren droht. Adaption ist das Zauberwort dieser Tage und bedeutet das, was dem Menschen in der Evolution seit Jahrtausenden den entscheidenden Vorteil verschafft: sich an geänderte Bedingungen anzupassen.
"Ein neues Gesetz wurde erlassen", schallt es wieder. Wir sind der von den verzweifelten Eiszeit-Flüchtlingen zum Oberhaupt ernannte schneeblinde Anführer dieser neuen, vielleicht letzten Zivilisation der Menschheit. Da haben wir in unserer erwünschenswerten Weisheit entschieden, dass Arbeitsschichten ab sofort in Notfällen auf 24 Stunden verlängert werden dürfen. Das bedeutet 24 Stunden harte körperliche Arbeit bei bisweilen Minus 40 Grad Celsius. Sicherlich besser, als neben dem großen Dampfgenerator auf nackten Holzplanken zu schlafen, denken wir uns.
Frostpunk lebt: ein Bürger gibt im Text-Popup seinen Eindruck von dem neuen Gesetz wider: "Arbeit, nichts als Arbeit, bis wir sterben. Wir kennens ja nicht anders." So sei es, denken wir uns. In Anbetracht der bitteren Pille, die wir uns durch gut designtes Gameplay versüßt gerne eintrichtern lassen, stellt sich schnell ein gewisser Zynismus ein.
Die Demo von Frostpunk verspricht einen technisch tadellos programmierten Survival-City-Builder, der stilsicher seine eigene Interpretation des Themas Steampunk auf unsere Rechner transportiert. Die gezeigte Grafik hat Klasse - vom Detailgrad der Maschinen und Gebäude über die Gestaltung der Spielwelt bis hin zu den Animationen der kleinen Figuren passt alles wie gegossen. Auch das Artwork ist sehr gelungen - quasi Steampunk tiefgefroren.
Die Gameplay-Mechaniken greifen logisch ineinander, sodass wir dem Spielfluss vom ersten Moment an intuitiv folgen können. Toll anzuschauen: auch HUD- und Menügestaltung bleiben Frostpunks eiskaltem 1800er Stil treu. Besonders die Geräuschkulisse sticht hervor: Sound und Musikuntermalung klingen sehr stimmig und intensivieren die dichte Atmosphäre fast bis ins Unerträgliche.
Mit fest eingestellten Ultra-Einstellungen können wir die Hardwarebedürnisse nur schätzen: schon die Demo wird wohl auf schwächeren Systemen eher stockend laufen. Wir vermuten bei dem Settings-Lock der Preview eine bewusste Maßnahme der Entwickler, um Frostpunk im bestmöglichen Licht an die Öffentlichkeit zu bringen.
Während wir also unsere kleinen Männ- und Weiblein schweren Herzens zu den weit abgelegenen, aber überlebenswichtigen Ressourcen schicken, fällt unser Blick auf das zentral im Display angezeigte Thermometer. Minus 20 Grad steht da und wir ahnen, dass es gerade relativ warm sein muss. Der Blick einige Zentimeter weiter nach rechts auf der Benutzeroberfläche bestätigt die Vermutung - eine Zeitachse zeigt die Wettervorhersage für die nächsten Tage. Ein Temperatursturz auf Minus 40 Grad steht bevor. Haben wir genug Kohle im Lager, um den Dampf-Generator am Laufen zu halten?
Sollen wir den Generator auf Overdrive schalten? Farblich markiert sind die Temperaturunterschiede bei den Gebäuden.
Eher sind es zu wenige Ressourcen für die nächsten Tage. Wir verdoppeln das Personal unserer Kohle-Expeditionen und geraten erneut an eine Grenze - die der verfügbaren Arbeiter. Alle sind beschäftigt mit lebensnotwendigen Aufgaben - Jäger, Sammler, Köche und Ärzte arbeiten bereits am Limit. Alle sind beschäftigt - alle, bis auf die Kinder. Nein! Verdammt, das kann nicht die einzige Lösung sein.
Wir prüfen nochmal alle Optionen, stehen im Real Life vom Computer auf und verschränken die Hände hinter dem Kopf. Das kannst du nicht ernsthaft von uns verlangen, Frostpunk! Ja, es ist nur ein Spiel. Aber eines, das uns die virtuellen Menschen, für deren Schicksal wir verantwortlich sind, ans Herz wachsen lässt. Besonders den Kindern möchte man die harten Zeiten im Spiel möglichst erträglich gestalten. Auch die allgemeine Hoffnung, einer von zwei zentralen Moralwerten im Spiel, würde unter der Schande leiden. Doch führt ein Weg daran vorbei?
Wie bei 11 Bits This War of Mine muss man schon ein dickes Fell haben, um die Kälte von Frostpunk lange auszuhalten. Und wir sprechen diesmal nicht von der virtuellen Kälte, sondern von der Kälte in unseren Herzen. Der Titel zehrt wirklich an den Nerven und legt Wunden bloß, deren Existenz uns vielleicht nicht einmal mehr bewusst war.
Natürlich weiß hoffentlich jeder vernünftige Mensch, dass so etwas wie Kinderarbeit existiert. Die allermeisten müssen nur mal den Kleiderschrank öffnen, um die Produkte dieses moralischen Verbrechens sehen zu können. Ein wenig erschreckend ist es, dass ein Computerspiel namens Frostpunk es vermag, uns dieses Verbrechen emotional nachvollziehbar zu machen. Das müssen wir erstmal sacken lassen.
Anhand einer Demo ein Fazit zu ziehen, ist immer schwierig. Zum einen, da noch Inhalte fehlen und zum anderen, weil Demos darauf ausgelegt sind, einen möglichst guten Eindruck zu machen. Entsprechend sind Aussagen über Qualitäten und Quantitäten bei Frostpunk zum jetzigen Zeitpunkt nur unter Vorbehalt möglich.
Gehen wir einmal vom Idealfall aus und stellen uns vor, das Game ist bis in den letzten Winkel von gleicher Qualität wie die Demo. Dann steht uns ein wahrer Nischen-Blockbuster bevor, der seinen Spielern mit unwiderstehlichem "Spielspaß" einige bittere Lektionen über das Wesen der menschlichen Gesellschaft eintrichtern wird.
Die Quantität betreffend hat uns Senior Producer Błażej Żywiczyński im Interview auf der Gamescom 2017 versichert, dass es wie beim geistigen Vorgänger This War of Mine einige kleine, kostenlose DLCs geben wird. Ein größeres, kostenpflichtiges Add-on sei ebenfalls bereits angedacht.
Auch bei der Kritik weisen wir darauf hin, eine Demo testgespielt zu haben. Unser Eindruck bewertet ein noch unfertiges Produkt mit recht großem Hardwarehunger, das bis hierher sehr gut umgesetzt ist. Die offenkundigste "Schwachstelle" stellt zugleich die größte Stärke von Frostpunk dar - seine zutiefst beklemmende Atmosphäre wird den Mainstream vermutlich kaum erreichen. So wie kaum einer gerne an die Herkunft seiner Kleidung denkt.